Glut und Asche

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Glut und Asche

Müde, erschöpft und vor allem eines: überfordert mit der Situation, und unwissend, was mich erwarten wird, komme ich in Chicago an einem der größten Flughäfen der Welt an.

Seit 18 Stunden wach, 2 Flüge und eine Einreisekontrolle später bin ich offiziell in den Vereinigten Staaten.

Dem Land der Träume, dem Land der Ziele, dem Land der Möglichkeiten.

Meine erste Begegnung mit einem Amerikaner gibt mir das Gefühl, nicht bereit für das alles zu sein.

Nicht bereit für ein Jahr in einem fremden Land, nicht bereit für meine neue Aufgabe und vor allem eines – nicht bereit für Neues.

Auch das brennende Bild von unerreichbaren Wolkenkratzern, modernen Gebäuden, Fastfoodketten an jeder Straßenecke, atemberaubender Natur und viele, viele große Events zerfiel schnell in Glut und Asche.

Stattdessen sah mein erstes Bild von Amerika aus wie ein einziger Hilferuf nach Modernität und Erneuerung. Heruntergekommene Gebäude, reparaturbedürftige Straßen, oberirdische Stromleitungen, die nur so nach Problemen schreien und unzählbar viele Polizeiwägen.

Mein erster Eindruck war nicht der Beste und änderte sich auch für die nächsten Wochen leider nicht wirklich. Dafür kam in mir das Gefühl von Heimweh und starkem Vermissen hoch. Beides kratzte und klopfte and der Oberfläche und wartete nur darauf, bis ich es endlich zuließ und nachgeben würde. Doch noch war ich nicht bereit dazu, ich war ja schließlich gerade erst angekommen.

Nach etwas über einer Woche war ich das erste Mal mit zwei anderen Au Pairs in Downtown Chicago.

Unerreichbare Wolkenkratzer, moderne Gebäude, Fastfoodketten an jeder Straßenecke und ein großes Event im Millennium Park erstreckten sich in meinem Blickfeld. Meine Freude und Begeisterung hielt sich in Grenzen und wurde von dem Gefühl der Überforderung siegesreich geschlagen.

Was mir von diesem Tag als Erinnerung blieb, waren Betrübtheit und der Geruch von Cannabis, sowie dass mir Chicago im Dunklen deutlich besser gefiel, als bei Tageslicht.

Die nächsten Wochen verbrachte ich damit, viel alleine zu unternehmen.

Ich machte viel Sport, telefonierte täglich mit mindestens einer Person von zuhause, erkundete meine neue Umgebung mit dem Fahrrad und arbeitete acht Stunden pro Tag. Mein Wecker klingelte um viertel nach sechs, damit ich noch Zeit hatte, zuhause anzurufen und mein Licht ging gegen zehn Uhr abends wieder aus. Ich begann und endete meinen Tag mit arbeiten und verbrachte die Zeit dazwischen viel alleine. Alleine sein war eigentlich nie ein Problem für mich gewesen, jedoch verwandelte sich dieses, in meinem eigentlich neuen „Zuhause“, in Einsamkeit.

Genau einen Monat nach meiner Ankunft, am 24. September 2022, fuhr ich erneut nach Chicago. Dieses Mal alleine. Ich war zwar verabredet, jedoch verbrachte ich die erste Stunde ganz für mich. Es war ein wolkiger, windiger Tag in der „Windy City“. Meine Kamera fest in der Hand, spazierte ich in die Richtung des vereinbarten Treffpunktes und versuchte dabei ein paar bekanntere Orte der mir noch unbekannten Stadt zu sehen. Ich kreuzte den Riverwalk, steuerte das Rathaus an und musste feststellen, dass das Gebäude zu hoch, zu breit und zu nah an mir dran war, um es vollständig in meine Linse zu bekommen. Mehr Distanz konnte ich jedoch nicht aufbauen, denn in meinem Rücken stand der nächste Wolkenkratzer. Von Enttäuschung war keine Spur. Ich fotografierte die einzelnen Teile des neoklassizistischen Gebäude und stellte fest, dass ich durch diese Art der Betrachtung viel mehr zu sehen bekam.

Eine Ecke und Kreuzung weiter befand sich der „Theater District“. Das Gefühl von Kunst und menschlich erschaffener Bildlichkeit strömte durch die Straßen.

Das Licht war perfekt, um die Leuchttafeln der verschiedenen Theaterstücke zu fotografieren und in mir begann mein Herz zu hüpfen. Die Glut fing wieder an zu leuchten und tatsächlich zeigte sich die Sonne über der Stadt am Michigan Lake. Ich traf mich mit zwei anderen Au Pairs und behielt meinen Plan für den Tag fest im Blick.

Gemeinsam gingen wir zum „John Hancock Tower“, für den die beiden einen kleinen nicht so geheimen Geheimtipp bekommen hatten. Von einer im Kostüm gekleideten Frau wurden wir in den Fahrstuhl begleitet und fuhren in den 96. Stock.

Die Fahrstuhltüre öffnete sich und vor uns erstreckte sich der Michigan Lake.

Die Wolken hatten sich vollständig verzogen und wir hatten durch die riesige Fensterfront einen freien Blick auf den Navy Pier.

Dem Tipp folgend, gingen wir in das Damenklo und konnten unseren Augen nicht trauen – direkt vor den Toilettenkabinen führte die riesige Fensterfront des 95. und 96. Stockwerkes weiter. Wir hatten eine freie Aussicht auf die Bauwerke Chicagos und Umgebung.

Chicago raubte mir den Atem und entzündete mein erloschenes Feuer.

Wenn du die Glut aufrechterhältst und deine Träume in dir nicht zur völligen Erlöschung hinunterkühlen lässt, wirst du immer die Chance haben, das Feuer wieder zu entfachen und deine Träume zum Leuchten zu bringen.
Nienke